Mann und Frau im Wald

Richtig verstehen, richtig anwenden, richtig regulieren – die private Unfallversicherung

„Wie gewonnen, so zerronnen“ – das könnte man meinen, wenn die gutachterlich anerkannte Invaliditätsleistung durch einen Kürzungseinwand wieder eingefangen wird. Unter welchen Voraussetzungen der Versicherer die Invaliditätsleistung kürzen kann, soll in diesem Teil der Aufsatzreihe beleuchtet werden.

Vorinvalidität

Ausgangspunkt sind wie immer die Versicherungsbedingungen. Ich verweise auf die AUB 2020 des GDV, die hierzu lauten: „Eine Vorinvalidität besteht, wenn betroffene Körperteile oder Sinnesorgane schon vor dem Unfall dauerhaft beeinträchtigt waren. Sie wird nach Ziffer 2.1.2.2.1 und Ziffer 2.1.2.2.2 bemessen.“

Die erste Frage, die sich stellt: Erfasst die Vorinvalidität ausschließlich unfallbedingte Beeinträchtigungen? Die AUB schweigen zur Ursache. Sie definieren nur die Invalidität als eine unfallbedingte Funktionsbeeinträchtigung. Liegt es da nicht nahe, dass auch die Vorinvalidität nur unfallbedingte Funktionsbeeinträchtigungen erfasst?

Die Rechtsprechung hat diese Frage noch nicht diskutiert, ist sich aber einig, dass eine Vorinvalidität stets bei älteren unfallbedingten Funktionsbeeinträchtigungen besteht. Andererseits hat der BGH (30.092009 – IV ZR 301/06) für eine anlagebedingte Fehlsichtigkeit eine Vorinvalidität angenommen. Damit ist offenkundig, dass es auf die Ursache der vorbestehenden Funktionsbeeinträchtigung nicht ankommt. In der Praxis wird die Vorinvalidität einfach in Abzug gebracht.

Mitwirkung von Krankheiten oder Gebrechen

Aus dem AUB 2020 des GDV: „Entsprechend dem Umfang, in dem Krankheiten oder Gebrechen an der Gesundheitsschädigung oder ihren Folgen mitgewirkt haben (Mitwirkungsanteil), mindert sich bei den Leistungsarten Invaliditätsleistung und Unfallrente der Prozentsatz des Invaliditätsgrads.

„Die Mitwirkung von Krankheiten oder Gebrechen führt nicht immer zu einer Leistungskürzung“

Tatsächlich unterlaufen den medizinischen Gutachtern an dieser Stelle die meisten Fehler, da sie die Begriffe „Krankheiten“ und „Gebrechen“ fehlinterpretieren. Zwar herrscht Einigkeit darüber, dass unter Krankheit ein regelwidriger Körperzustand zu verstehen ist, der ärztlicher Behandlung bedarf (vgl. BGH, 19.10.2026 – IV ZR 521/14). Jedoch wird das Vorliegen eines Gebrechens häufig bereits dann von den Gutachtern bejaht, wenn degenerative Veränderungen die Invalidität begünstigt haben. Die trifft erfahrungsgemäß ältere Versicherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmer häufiger. Doch sollen diese im Alter weniger Versicherungsschutz genießen, weil ihr Körper deutlichere Verschleißerscheinungen zeigt? Wohl kaum! Daher versteht die Rechtsprechung unter Gebrechen auch erst einen das alterstypische Maß übersteigenden Zustand. Steht dieser fest, gilt er insgesamt als Gebrechen und wird nicht in „alterstypisch“ und „altersuntypisch“ unterteilt (vgl. OLG Karlsruhe, 30.12.2016 – 12 U 97/16). Die Folge ist eine Leistungskürzung entsprechend dem Mitwirkungsanteil.

Versicherungsbedingungen sehen jedoch vor, dass eine Kürzung dann unterbleibt, wenn die Mitwirkung weniger als 25 Prozent beträgt. Gute Bedingungen haben diesen Anteil angehoben. Hier lohnt der Vergleich, auch um Haftungsrisiken zu reduzieren bzw. zu vermeiden.

Abgrenzung „Vorinvalidität“ und „Krankheiten oder Gebrechen“

Die Abgrenzung ist bedeutsam, da die Mitwirkung von Krankheiten oder Gebrechen – im Gegensatz zur Vorinvalidität – nicht immer zu einer Leistungskürzung führt.

„Wenn vor Eintritt des Unfalls der Versicherte schon durch Krankheiten oder Gebrechen dauernd behindert war oder Körperteile oder Sinnesorgane ganz oder teilweise verloren oder gebrauchsunfähig gewesen sind, hat ein Abzug dieser – im Ansatz nach denselben Grundsätzen zu bemessenden – Vorinvalidität zu erfolgen (§ 10 Abs. 4 AUB). Haben bei den Unfallfolgen Krankheiten oder Gebrechen mitgewirkt, so ist die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens zu kürzen, sofern dieser Anteil mindestens 25 Prozent beträgt.“ Saarl. OLG, Urt. v. 20.11.2020 – 5 U 106/19

Sobald Krankheiten oder Gebrechen bereits vor dem Unfall eine Funktionsbeeinträchtigung bedingten, kommen sie im Gewand der Vorinvalidität daher. Eine Kürzung ist in diesem Fall stets vorzunehmen. Haben sie die Invalidität begünstigt – zum Beispiel eine vorbestehende Arthrose, die sich erst seit dem Unfall bemerkbar macht -, kommt lediglich eine Minderung in Betracht. Da Vorinvalidität und Mitwirkung Angriffsmittel des Versicherers sind, muss er ihre Voraussetzungen darlegen und beweisen.

Zusammenfassung

Funktionsbeeinträchtigungen vor dem Unfall, gleich welcher Ursache, sind nach den Bedingungen als Vorinvalidität anspruchskürzend zu berücksichtigen. Krankheiten oder Gebrechen, die am Eintritt der Invalidität mitgewirkt haben, rechtfertigen in Abhängigkeit von den Bedingungen nur bei Überschreiten eines bestimmten prozentualen Anteils eine Minderung. Gebrechen sind nur dann anzunehmen, wenn das alterstypische Maß überschritten ist. Sowohl für das Vorliegen einer Vorinvalidität als auch für die Mitwirkung von Krankheiten oder Gebrechen tätigt der Versicherer die Beweislast.